Montag, 3. Juni 2019

Fibre to the Brieftaube


89% der Haushalte in Wiesbaden haben einen Glasfaseranschluß, sagte der Magistrat der Stadt Wiesbaden (und beruft sich dabei auf die Bundesnetzagentur). Kaum zu glauben, wie toll die Anbindung ans Internet hier in Wiesbaden ist.

Wussten Sie das? Daß Ihr Internetanschluß ein Glasfaseranschluß ist? Also ziemlich sicher ist das ein Glasfaseranschluß, also das Beste, was wir heute zu bieten haben! Sie glauben mir das nicht? Damit liegen Sie richtig, denn diese Aussage stammt aus der Politik. Aber lassen Sie mich ein wenig ausholen.

Das Thema Glasfaser beschäftigt uns schon seit mind. 30 Jahren. Auch in diesem Blog habe ich mich mehrfach dazu geäussert, siehe hier: "Denn die Zukunft gehört dem Glasfaserkabel". In diesem Text verwies ich auf einen Artikel in der Zeitschrift DER SPIEGEL vom 25.10.1982 (43/1982), in dem dieser Satz stand: Die haarfeine Glasfaser kann über Lichtstrahlen ungleich mehr Daten, Dienste und Programme übermitteln als die Kupferkabel.

Die SPD-Fraktion im Wiesbadener Stadtparlament hatte am 6.3.2019 mit einer Anfrage an den Magistrat (Anfrage Nr. 113/2019) nach dem Stand der Glasfaseranbindung der Bürger Wiesbadens gefragt. Und in der Sitzung des Stadtparlaments am 23. Mai 2019 erklärte dazu der Magistrat, vertreten durch den Bürgermeister Herrn Dr. Franz:

Quelle: Antwort des Magistrats zur Anfrage 'Glasfaserversorgung in Wiesbaden'

Sieht doch alles gut aus, sagt der Magistrat der Stadt Wiesbaden und zitiert dazu eine Zahl der Bundesnetzagentur, also einer Behörde der Bundesregierung. Und diese sagt:

Private Breibandverfügbarkeit
Quelle: BMVI Der Breitbandatlas



Eine kleine Rechnung

Lassen Sie uns doch einfach mal rechnen: Wiesbaden hat etwa 146.000 Haushalte (Quelle: Zahlen und Fakten 2018). Davon rechnen wir jetzt die 89% und ich erhalte dann knapp 130.000 Haushalte.

Praktisch jeder Haushalt müsste somit per Glasfaser ans Internet angebunden sein. Alles in Butter? Warum lamentieren die ITler? Warum lamentiere auch ich hier im Blog, daß wir dringend Glasfaser brauchen?


Anschlüsse im Keller

Bitte gehen Sie einmal in Ihren Keller und schauen Sie dort nach, ob Sie dort Glasfaser finden. Sofern Sie nicht zu den 11% der Wiesbadener Haushalte gehören, müssten Sie dort in einem Raum ein Kabel finden, daß von aussen durch die Kellerwand geführt wird und unter einer Schutzschicht eine Faser Glas enthält. Sie finden in diesem Raum sicherlich ein Rohr für die Versorgung mit Trinkwasser, ein Abwasserrohr, ein Rohr für die Versorgung mit Gas und ein Stromkabel, denn das sind die üblichen Anschlüsse für ein Haus. Ebenfalls finden Sie dort ein Kabel für Telefon und möglicherweise auch ein Kabel für den Fernsehanschluß. In welchem Kabel finden Sie jetzt die Glasfaser?

Wasser, Abwasser, Gas und Strom scheiden aus, bleiben Telefon und Fernsehen übrig. Diese werden jedoch heute in Deutschland meistens über Kupferkabel realisiert. Ausnahmen gibt es, aber dies betrifft nur etwa 2-3% der Haushalte in Deutschland, dazu komme ich später in diesem Text.

Lassen Sie mich bitte einen kurzen Ausflug in die Technik machen und dabei Fernsehkabel aussparen.


Erläuterungen

Im Eingang dieses Textes hatte ich bereits auf einen alten Text dieses Blogs verwiesen: "Denn die Zukunft gehört dem Glasfaserkabel". Dieser Text stammt von Ende 2015, darin beschrieb ich die Technik und die Gründe für diese Technik. Hier ein Bild der Deutschen Telekom, das die Möglichkeiten der Anbindung ans Internet darstellt:



POTS

Das alte Telefonsystem (= plain old telephone system - POTS) wurde vollständig mit Kupferkabeln realisiert. In obigem Bild entspricht dies der Anbindung des Hauses mit der Nummer 1.

Für die Übertragung von Daten ist dieses Netz schon lange nicht mehr ausreichend. Also begann man, stückweise die Kupferkabel durch Glasfaser zu ersetzen, vor allem die Fernverbindungen (quasi die "Autobahnen" des Netzes).


FTTC

Auch dieses reichte nicht mehr aus. Deshalb begann die Deutsche Telekom ab dem Jahr 2005 mit dem Verlegen von Glasfasern bis zu den grauen Verteilerkästen am Straßenrand, wobei neben die alten Verteilerkästen neue Kästen gesetzt wurden. Diese Technik läuft unter dem Schlagwort FTTC (=fibre to the curb). Dies entspricht in obigem Bild dem Anschluß des Hauses mit der Nummer 2, wobei in der Praxis ein solcher Verteilerkasten auch mehr als 100 Haushalte mit Anschlüssen per Kupferkabel versorgt.

Dies ist die heute übliche Form der Anbindung ans Internet, zumindest hier in Deutschland.


FTTB

Man kann natürlich noch weiter mit dem Glasfaser gehen, also bis ins Haus hinein. D.h. in einem Kellerraum des Hauses finden Sie dann neben Wasser, Gas, Strom und Abwasser auch zusätzlich ein Kabel mit Glasfaser, das dort auf die Haustechnik umgesetzt wird. Das fällt unter den Begriff FTTB (=fibre to the building) und entspricht in obigem Bild dem Anschluß des Hauses Nummer 3.


FTTH

Und man kann noch einen Schritt weitergehen und innerhalb des Hauses jede Wohnung an Glasfaser anschließen. Fibre to the home (=FTTH) ist das zugehörige Schlagwort, aber davon werden wir hier in Wiesbaden noch länger träumen.


FTTD

Und man kann noch einen Schritt weitergehen, auch wenn dies für Deutschland Zukunftsmusik ist. Man kann die Telefon- und Internettechnik im Haus bzw. in einer Wohnung über Glasfaser realisieren: FTTD (=fibre to the desktop). Aber lassen wir das, das liegt so weit in der Ferne.


Haushalte mit Glasfaser

89% der Haushalte in Wiesbaden sind per Glasfaser ans Internet angebunden, sagt die Bundesnetzagentur, und das wäre per FTTH oder wenigstens FTTB. Eigentlich idyllische Verhältnisse, wenn Sie im Keller Ihres Wohnhauses eine entsprechende Glasfaser finden würden.

Deutschland steht eigentlich ganz anders da:

Quelle: © Fibre to the Home Council Europe, Stand September 2017

Der Durchschnitt innerhalb der EU liegt bei 13,9%, d.h. 13,9% aller Häuser bzw. Haushalte haben einen Glasfaseranschluß. Davon sind wir in Deutschland mit unseren 2,3% aber noch ein schönes Stück entfernt, denn Sie finden Deutschland auf dem Platz 5, von unten. Wir liegen noch hinter der Türkei und der Ukraine, aber das sind ja auch Industriegiganten.....

Ich möchte auf den schon mehrfach erwähnten Text von 2015 verweisen. Dort hatte ich einen entsprechenden Verweis auf eine Grafik vom Dezember 2015. In der damaligen Grafik tauchte Deutschland erst gar nicht auf. Mittlerweile taucht Deutschland auf, ein Fortschritt ist somit erkennbar, wenn auch einer mit geringer Geschwindigkeit.


Fiber to the premises by country

In diesem Artikel in der englischsprachigen Wikipedia finden Sie eine Aufstellung der Glasfaseranbindung in Räume, Wohnungen oder Gebäude. Finden Sie Deutschland in dieser Aufstellung? Der Stand in Deutschland ist nicht erwähnenswert.

Allerdings finden Sie in diesem Wikipedia-Artikel das Unternehmen Deutsche Telekom, das in den Ländern Montenegro und Slowakei solche Netze baut. In der Slowakei soll man auf diesem Wege eine Geschwindigkeit von 1 Gigabit/s erhalten und dafür monatlich 25€ zahlen.


Diskrepanzen

Leben wir in Wiesbaden auf einer Insel der (Internet-)Glücklichen? In Deutschland haben etwa 2,3% der Haushalte einen Internet-Anschluß per Glasfaser, sagt das FTTH-Council, angesiedelt bei der EU. Und in Wiesbaden haben etwa 89% der Haushalte einen Anschluß per Glasfaser, sagt der Magistrat und zitiert dazu eine Zahl des zuständigen Bundesministeriums.

Nun gibt es eine beachtliche Abweichung zwischen 2,3% (für Deutschland) und 89% (in Wiesbaden). Welche Zahl ist denn richtig?

Vermutlich ist die Zahl 2,3% richtig. Fragen Sie einfach mal in Ihrem Bekanntenkreis, wer einen Internetanschluß per Glasfaser hat. Fragen Sie dazu nicht Ihre Nachbarn, denn die haben den gleichen Anschluß wie Sie in Ihrem Haus.

Wie kommt man dann auf die Zahl 89%? Mit dieser Zahl würde man in der abgebildeten Aufstellung an erster Stelle stehen, mit weitem Abstand vor Litauen. Ist diese Zahl Propaganda?

Ich denke, die Zahl 89% lässt sich erklären. Zwar legt der Begriff Versorgung eines Haushalts mit Glasfaser nahe, daß Glasfaser zumindest bis in den Keller eines Hauses hinein liegt, aber gemeint ist doch nur die Glasfaserleitung in der Straße, die im Verteilerkasten endet. Und durch diese Umdefinition des Begriffs Glasfaserversorgung in Verbindung mit dem Schlagwort Haushalt erreicht man die Zahl 89%. Alles bestens, aber erst nach der Umdefinition.

Es wäre schön, wenn 89% der Haushalte eine Anbindung per Glasfaser hätten, aber in der Politik gilt offensichtlich: Nicht das Erreichte zählt, das Erzählte reicht.


Brieftauben

Wenn auf einer Straße zwar eine Wasserleitung verlegt, aber keine Abzweigung ins Haus hinein gelegt wurde, haben Sie dann fliessendes Wasser im Haus? Wenn Sie am PC sitzen und Ihre Anfrage bzw. die Antwort kommt über Glasfaser, geht zu diesem grauen Kasten (Verteilerkasten) und fliesst von dort den letzte Kilometer per Kupferkabel zu Ihnen, haben Sie dann einen Glasfaseranschluß?

Stellen Sie sich einmal vor, Ihre Internetanbindung erfolge über Brieftauben. Also nicht die gesamte Strecke sondern nur über den letzten Kilometer erfolgt der Transport der Daten per Brieftaube, ansonsten ist das alles Glasfaser. Also Sie geben Ihre Anfrage am PC ein, die Brieftaube transportiert das zum Verteilerkasten, wo Ihre Anfrage dann per Glasfaser weitergeleitet wird. Und die Antwort auf Ihre Anfrage kommt dann per Glasfaser zum Verteilerkasten, wo die nächste freie Brieftaube die Daten mit der Antwort zu Ihnen bis an den PC transportiert. Wie würden Sie die Geschwindigkeit dieser Anbindung bewerten? Wo liegt bei dieser Anbindung der Engpass?

Und: Liegt in diesem Fall Glasfaser bis ins Haus?

Nach meiner Meinung ist dies eine Anbindung per Brieftauben, denn die Geschwindigkeit der Brieftaube bremst das Glasfaser aus. Aber nach obiger Sicht ist dies eine Anbindung per Glasfaser, denn bis zur Vermittlungsstelle liegt doch Glasfaser. Und so ist auch die Antwort des Magistrats bzw. die Aussage der Bundesregierung im Breitbandatlas zu bewerten: Das letzte Teilstück ist über Kupferkabel realisiert und die Geschwindigkeit dieses Kupferkabels legt die Obergrenze für die Geschwindigkeit Ihrer Internetanbindung fest. Und mit jedem zusätzlichen Meter Kupferkabel sinkt die Übertragungsgeschwindigkeit dieses Kupferkabels. Dieser Effekt lässt sich mithilfe der Physik erklären, und er kann nicht wegdiskutiert werden.

Sie dürfen jetzt entscheiden, welcher Zahl Sie glauben. In meinen Augen ist die Zahl 89% ein Rechentrick.